Eine Suche, die nie eine war

Helga starrte aus dem Fenster und nippte gedankenverloren an ihrem Cappuccino. Sie saß regelmäßig in ihrem Lieblings-Café mit Blick auf den wunderschönen See und genoss diesen Ausblick. Und natürlich Alfredo´s mit Liebe gemachten Kaffee. Aber heute grübelte sie mal wieder. Wie so oft in den letzten Monaten.

Seit sie ihren Mann mit ihrer besten Freundin in Flagranti erwischt hatte, war ihr Leben nicht mehr so unbeschwert, wie zuvor. Von dem Mann betrogen zu werden, ist schon Herausforderung genug. Jedoch von dem Mann und der besten Freundin - und das gemeinsam - betrogen zu werden war nicht auszuhalten. Sie hatte niemanden mehr, mit dem sie darüber reden konnte.

Helga, Anfang fünfzig, hatte sich ihr halbes Leben um die Kinder gekümmert, ihrem Mann in seiner Firma den Rücken frei gehalten und lediglich ihre beste Freundin ab und an gesehen und mit ihr über ihre Sorgen gesprochen. Und jetzt? Wem konnte sie sich noch anvertrauen? Die Kinder, längst aus dem Haus, wollte sie nicht belasten. Obwohl sie Bescheid wussten und auf ihren Vater ebenfalls sauer waren. Aber er war immer noch ihr Vater. Und Helga wollte das Verhältnis nicht noch zusätzlich verschlechtern.

Was ihr angetan wurde, hatte nicht nur ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt, sondern sie fragte sich seit dieser Begebenheit immer wieder, was sie eigentlich von ihrem Leben wollte. Was konnte sie jetzt tun? Wohin ging ihre Reise? Nicht nur beruflich, denn die gelegentliche Unterstützung im Büro ihres Mannes hatte sich erledigt. Sie konnte und wollte nicht mehr mit ihm längere Zeit in einem Raum zusammen sein. Wenn es Fragen bezüglich der Kinder zu klären gab, telefonierten sie. Es ging dann sachlich zur Sache und jegliches Gefühl wurde unterdrückt - wie bei ihr, oder war gar nicht vorhanden - wie sie es bei ihm vermutete.

Sie saß nun in einem leeren, viel zu groß gewordenen Haus und wusste nichts mehr mit sich anzufangen. Daher ging sie in letzter Zeit auch immer öfter in ihr Lieblings-Café. Was sollte sie auch sonst unternehmen? Sie hatte ja bisher selten Zeit für sich gehabt. Damals wusste sie noch nicht einmal, was ihr gut tat, geschweige denn, was sie schon immer mal gerne machen wollte.

Sie merkte gar nicht, dass ihr eine Träne die Wange herunter lief. Alfredo kam lächelnd mit einer weiteren Tasse Cappucciono auf sie zu. "Hier, Bella, geht auf´s Haus." Helga schämte sich ihrer Tränen, wischte sie wie beiläufig weg und lächelte Alfredo an. "Danke, mein Lieber, danke!"

Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie einen Reiter in weiter Ferne auf dem Feld galoppieren. Da erinnerte sie sich wieder an ihren Traum, der immer wieder kehrte. Wie oft wurde sie nachts schweißgebadet wach und konnte sich nur noch an einen Reiter erinnern, der überlebensgroß auftauchte. Aber dieser Reiter bewegte sich nicht. Er stand einfach nur still und starr über ihr. Sie wusste nichts mit diesem Traum anzufangen, geschweige denn, warum sie jedes mal völlig fertig daraus erwachte und Stunden brauchte, um wieder einzuschlafen.

In der kommenden Nacht war es wieder so weit. Sie wurde zitternd wach. Und wieder war ihr der überlebensgroße Reiter erschienen. Dieses mal konnte sie sich aber an Flüsse erinnern, die in der Nähe waren. Sie stand auf, ging auf den Balkon und wartete in der kühlen Nachtluft, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Ja, sie sah es jetzt genau vor sich: zwei Flüsse, die irgendwie ineinander flossen. Und der riesengroße Reiter über ihr. Auf einmal hatte sie eine tiefe Gewissheit, dass sie an diesen Ort müsse.

"Jetzt drehst du durch, Helga", dachte sie. Was sollte das alles jetzt? Sie legte sich wieder in´s Bett und wälzte sich stundenlang darin, nur um zu grübeln, warum ihr Leben so kaputt sei und wie sie das jemals wieder hinbekommen sollte. Diese Wut machte sie langsam mürbe.Sie fiel erst im Morgengrauen in einen unruhigen Schlaf. Doch dieses mal sah sie es ganz genau. Der große Reiter, davor die zwei Flüsse. Ein schöner Ort, an dem sie sich wohl fühlte. So wohl, wie schon viele Jahre nicht mehr. Denn sie musste sich eingestehen, dass die letzten Jahre mit ihrem Mann immer anstrengender und langweiliger geworden waren. Wohlgefühl, so wie sie es früher empfand, wenn er bei ihr war, gab es schon lange nicht mehr.

Aber jetzt in diesem Traum fühlte sie sich rundum wohl und zufrieden. Als Helga wach wurde, war sie das erste mal nicht aufgewühlt, sondern sie ertappte sich dabei, dass sie lächelte. Und genau in dem Moment war ihr klar, dass sie diesen Ort suchen musste. Sie wollte dieses Wohlgefühl zurück in ihrem Leben haben. Sie wusste zwar nicht, warum, aber sie war sich sicher, dass es diesen Ort geben musste.

Sie tappte in die Küche, machte sich einen Kaffee und ging damit in das alte Büro ihres Mannes. Sie schaltete den Laptop an und tippte in die Suchmaschine ein: "Wo steht ein Reiter an zwei Flüssen?". Direkt der erste Eintrag ließ ihr Herz höher schlagen. Das Deutsche Eck! Natürlich, sie hatte schon mal davon gehört. Dort steht das Reiterstandbild des Kaisers Wilhelm I. Und dort flossen Mosel und Rhein ineinander. Ihre ehemalige Klassenkameradin Ute wohnte dort. Jetzt erinnerte sich Helga. Ute hatte beim letzten Klassentreffen darum gebeten, sie möge sie doch mal in ihrer wunderschönen Heimatstadt besuchen. Bisher hatte Helga einfach keine Zeit gehabt. Aber jetzt hatte sie davon ausreichend.

Sie suchte die Telefonnummer von Ute heraus und rief direkt an. Ute freute sich sehr über ihren Anruf. Sie unterhielten sich sehr lange. Das tat Helga so gut. Endlich mal wieder unbefangen mit jemandem reden. Sie erzählte nicht so viel von ihrer Trennung, denn das tat ihr immer noch viel zu weh. Aber sie erwähnte kurz, dass die Scheidung laufe. Ute war so rücksichtsvoll und stellte keine weiteren Fragen.

Helga hatte noch nicht erzählt, dass sie andachte, nach Koblenz zu kommen, da kam der Vorschlag schon von Ute. "Du, was hältst du davon, wenn du mich hier in meiner wunderschönen Stadt besuchst?" Helga´s Herz hüpfte. "Gerne, Ute, ich komme dich sehr gerne besuchen!"

Sie planten Helgas Anreise, die schon in der nächsten Woche stattfinden sollte. Helga konnte bei Ute in ihrer Wohnung ein Zimmer haben. Sie hatte nach dem Telefonat das Gefühl, dass ihr Leben endlich wieder Aufschub bekommen konnte. Den gesamten Tag plante sie ihre Reise und machte Vorbereitungen. Als sie Abends ihren Kindern telefonisch ihre Reisepläne mitteilte, freuten sich beide sehr. Endlich fing ihre Mutter wieder an, zu leben. So lange hatten sie ihr zugesprochen, doch endlich mal die Zeit für sich und ihre Träume und Wünsche zu nutzen. Doch Helga hatte immer eingewandt: "Welche Träume und Wünsche? Die, die ich hatte, wurden mir zerstört. Jetzt habe ich keine mehr."

Eine Woche später saß Helga im Zug. Sie fuhr vorbei an den unzähligen Tälern, Burgen und Orten. Wie schön es hier war. Sie hatte in den vergangenen Tagen zwar weniger gegrübelt - zu viel war sie mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen -, aber die traurigen Gefühle und ihre Wut waren so sehr zu ihrem Alltag geworden, dass sie unterschwellig immer vorhanden waren. Auch jetzt genoss sie zwar die herrliche Fahrt, doch in ihrem Kopf drehten sich ihre Gedanken. Sie wusste immer noch nicht, was sie sich eigentlich von dieser Reise erhoffte. Sie konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass wenn sie nach Koblenz reist, wären all ihre Sorgen und Wut nur noch Schnee von gestern.

"Du bist schon lange nicht mehr die Frau, die du warst, als ich dich kennen- und lieben gelernt habe", hatte ihr Mann ihr bei einem ihrer letzten Gespräche vor der Trennung gesagt. "Du warst früher unbeschwert, hast einfach gemacht und keine Angst gehabt. Und heute?" Er hatte nicht weitersprechen brauchen. Helga wusste, dass ihre Angst immer mehr von ihr Besitz ergriff. Und sie wusste noch nicht einmal, warum eigentlich. Sie hatte bisher kaum schlimme Erfahrungen gemacht. Sicher, da waren viele Herausforderungen gewesen, die es in jeder Familie gab. Aber wirklich schlimm war nichts davon.

Sie machte sich jedoch ständig Sorgen. Sorgen, ob die Firma ihres Mannes ewig so gut weiter laufen würde. Ob sie ihr Haus halten könnten. Was den Kindern widerfahren könnte. Und so weiter und so fort. So ging es an manchen Tagen stundenlang in ihrem Kopf herum. Einmal ertappte sie sich selbst, als sie an ihrem Flur-Spiegel vorbei ging und hineinsah, wie arg ihre Mundwinkel herunter hingen. Ihr ganzes Gesicht spiegelte ihre ständigen Sorgen wider.

Helga lachte bitter auf und ihr Sitznachbar im Zug schaute sie komisch an. Kein Wunder, dass ihr Mann sich eine andere Frau gesucht hatte. Aber ausgerechnet ihre beste Freundin. Helga merkte, wie sie immer wütender wurde. Sie ertrug das alles nicht mehr!

In Koblenz angekommen, begrüßte sie Ute herzlich. Die beiden quatschten bis spät in die Nacht und tranken etwas zu viel Wein. Helga wurde wieder wach und wusste sofort, dass ihr Traum auch hier nicht vor ihr Halt machte. Aber dieses mal war er noch intensiver, als sonst. Sie spürte Wut und zugleich dieses lang vermisste Wohlgefühl. Ganz genau sah sie wieder den Reiter, die zwei Flüsse und dieses mal regnete es Konfetti. "Ich drehe durch! Das ist doch nicht mehr normal", Helga fuhr sich durchs Haar und stöhnte. Sie hatte wirklich große Angst, verrückt zu werden. "Na klasse, da ist sie ja wieder - meine Angst. Gut gepflegt und schon ein Teil von mir....."

Dieses mal schlief Helga nicht mehr ein. Zu aufgewühlt war sie. Sie verstand sich und die Welt - und am allermeisten ihren Traum - nicht mehr. Als sie Geräusche aus der Küche hörte, ging sie hinunter. Ute war schon auf und bereitete Frühstück. "Guten Morgen, liebe Helga! Du bist ja schon wach! Hast du gut geschlafen?" "Zu früh wach geworden", murmelte Helga. Sie wollte auf gar keinen Fall etwas von diesem verrückten Traum erzählen.

"Liebes, meine Tochter hat heute Morgen früh angerufen. Sie muss in die Firma. Irgendein wichtiger Auftrag. Ich versteh das alles nicht mehr, was sie da genau macht. Lauter Fremdwörter. Na ja, egal. Auf jeden Fall fahre ich jetzt gleich nach dem Frühstück direkt zu meinen Enkelkindern. Magst du mit?" Helga war überhaupt nicht nach Gesellschaft. Sie war viel zu durcheinander nach ihrem Traum und daher auch nicht böse, dass Ute weg musste. "Nein, Ute, ein anderes mal gerne. Aber heute möchte ich etwas alleine durch die Stadt schlendern und erst einmal hier ankommen."

Die beiden frühstückten noch gemeinsam. Dann war Ute auch schon weg. Sie wollte bis zum Abendessen wieder zu Hause sein. "Dann lade ich dich in eines unserer Traditions-Häsuer zum leckeren Essen und sehr gutem Wein ein. Na, was sagst du?" Ute schaute fragend zu Helga. "Wenn es dieses mal nicht zu viel von dem edlen Tropen ist, bin ich gerne dabei." Sie musste grinsen, denn sie wusste wirklich nicht mehr, wann sie das letzte mal von zu viel Wein Kopfschmerzen hatte.

Als Ute weg war, duschte Helga ausgiebig und machte sich auf den Weg zum Deutschen Eck. Da stand dieses überlebensgroße Reiterstandbild. Es war imposant. Sie ging erst einmal vorne auf die Ecke und betrachtete die unterschiedlichen Farben der zwei ineinander fließenden Flüsse. Wie schön es hier war. Auf der anderen Seite schaute man auf die riesige Festung Ehrenbreitstein. Es war ein sonniger Herbsttag und Helga genoss die wunderschöne Gegend sehr.

Einige letzte Camper standen mit ihrem Wohnmobil auf dem gegenüberliegenden Campingplatz. Es waren nur wenige Touristen hier an diesem denkwürdigen Ort. Im Sommer war hier bestimmt mächtig viel los, doch jetzt hielt es sich in Grenzen. Helga schaute sich alles ausgiebig an und setzte sich dann auf die Stufen zu Fuße des Denkmals. Sie wartete, dass etwas passierte. Aber was um Himmels willen, sollte eigentlich passieren?

Sie saß jetzt an ihrem "Traum-Ort". Außer, dass es kein Konfetti regnete. Helga musste über die Absurdität lachen. Es war aber auch zu verrückt. Sie saß hier und wusste nicht, warum. Und nach einer guten Stunde Wartens auf was-auch-immer, schlenderte sie endlich durch die Altstadt. Wie schön es hier war. Ganz besonders hatte es ihr die Liebfrauenkirche angetan. Welch ein schönes Gebäude an einem herrlichen Platz. Sie trank Cappuccino am Münzplatz in der Kaffeewirtschaft. Heute war es so warm, dass sie draußen sitzen konnte. Sie beobachtete die Koblenzer und genoss es hier zu sein. Aber immer wieder kamen ihre trüben Gedanken, ihre altbekannten Sorgen, sowie ihre Wut und verdunkelten diesen sonnigen Tag.

Abends ging es mit Ute in das Weinhaus Hubertus. Sie aßen lecker und kosteten auch den ausgezeichneten Mosel-Wein. Helga erzählte Ute von ihrem Tag, außer von ihrer Suche nach was-auch immer.  Ute versprach Helga, am nächsten Tag Zeit für sie zu haben. "Dann zeige ich dir mal meine Stadt. So, wie ich sie liebe."

Am nächsten Tag schlenderten sie gemeinsam durch die Altstadt. Ute zeigte ihrer alten Klassenkameradin ihre Lieblingsgeschäfte, die schönsten Ecken, geheime Gärten und zwischendurch kehrten sie in gemütlichen Cafe´s ein. Sie lachten viel und Helga ging es immer besser. Doch ihr Traum ließ sie nicht in Ruhe. Er geisterte in jedem Moment durch ihren Kopf. Helga hatte das Gefühl, dass es immer heftiger wurde, seit dem sie in Koblenz war.

So vergingen die Tage. Tagsüber verbrachten die zwei Frauen gemeinsam ihre Zeit. Helga lernte auch die Enkelkinder kennen, die sie sofort in ihr Herz schloss. Und jeden Tag ging sie mindestens einmal alleine an das Deutsche Eck. Sie träumte inzwischen so heftig und deutlich ihren Traum und die dazugehörigen Gefühle wurden immer übermächtiger. Helga hatte inzwischen wirklich große Sorgen um ihren Geisteszustand. Ab sie konnte einfach nicht anders, als doch jeden Tag immer und immer wieder an den Ort ihres Traumes zu gehen und zu warten.

Am letzten Spätnachmittag vor ihrer Abreise saß Helga mal wieder verzweifelt am Deutschen Eck. Sie hatte eine wundervolle Woche mit Ute in dieser schönen Stadt hinter sich. Aber nichts, was sie sich von ihrem Traum erwartet hatte, ist eingetroffen. Obwohl sie gar nicht genau wusste, was sie sich eigentlich erhofft hatte. Nichts hatte sich verändert. Sie stand enttäuscht auf und ging Richtung Rheinanlagen. Das Herbstlaub lag immer dichter auf dem Weg. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, und der Winter hielt Einzug.

Auf einmal sah Helga vor sich eine Frau, die wie ein kleines Kind das Herbstlaub in die Luft warf und sich daran erfreute. Helga blieb stehen und beobachtete die Frau. Sie bewunderte diese kindliche Ausgelassenheit. Auf einmal drehte sich die Frau zu ihr um und sah ihr tief in die Augen: "Hallo! Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen, oder?" Helga blinzelte ihre Tränen weg. Sie schämte sich ihrer Gefühle, die sie beim Anblick dieser Frau übermannten. Wann war sie das letzte mal so ausgelassen gewesen? Wann hatte sie das letzte mal einfach nur genossen, ohne nebenbei nicht quälend ihre Wut zu spüren? Die Frau kam auf Helga zu, streckte ihr ihre Hand entgegen. "Ich heiße Heidi! Willkommen in meinem Leben!" Diese Frau schenkte ihr ein ehrliches Lächeln und ging einfach davon.

"So einfach könnte das Leben sein", dachte Helga traurig. "So einfach und unbeschwert, wenn mich mein Mann nicht so sehr betrogen hätte. Wenn mich meine beste Freundin nicht hintergangen hätte. Wie kann ich nur jemals wieder so unbeschwert sein, wenn ich doch weiß, wie verletzend deine dir nächsten Menschen sein können?" Helga ließ nun ihren Tränen freien Lauf und lief die Rheinanlagen weiter.

Als sie an einem winzigen Weindorf vorbei kam, versiegten so langsam ihre Tränen. Auf einmal war ihr Traum wieder so präsent, dass Helga fast meinte, sie wäre darin. Auch die Gefühle von Verwirrtheit, Angst, aber auch dieses Wohlgefühl - alles war gleichzeitig so stark vorhanden, dass Helga das Gefühl hatte, durchzudrehen. Sie ging immer schneller. Sie versuchte, diesem Gefühlschaos zu entfliehen.

Auf einmal sah sie vor sich ein Brautpaar. Wunderschön und unbeschwert sah es aus. Helga musste schlucken, denn sie dachte sofort an ihre eigene Hochzeit. "Genießt eure Unbeschwertheit. Die wird euch schnell genug verlassen", dachte Helga verbittert. Sie blieb stehen und beobachtete die Zwei. Wie jung sie waren. Ein Fotograf sprang um die Zwei herum. Auf einmal holte er etwas aus seiner Jackentasche und schmiss es hoch in die Luft. Zig mal hörte Helga den Auslöser. Doch was war das, was da leise herunter rieselte? Es war Konfetti! Helga riss die Augen auf. Wie in ihrem Traum. Jetzt wusste sie, dass etwas geschehen würde. Sie war sich nur nicht klar, was. Das war aber egal. Sie wusste einfach.

Sie hörte noch im Vorbeigehen, wie der Bräutigam zu dem Fotograf rief: "Warum Konfetti? Für meine Magnolia hättest du Blumen werfen müssen." Alle lachten ausgelassen. Selbst Helga musste mitlachen. "Welch ein hübscher Name! Es war eines der ersten Pflanzen gewesen, die sie in ihrem frisch gekauften Haus gepflanzt hatte. Einen Magnolien-Baum. Wie sehr sie diese tulpenähnlichen Blüten liebte. Ihr Mann lachte sie jedes Jahr aus, wenn sie im Frühling den Baum aus allen Perspektiven fotografierte. Sie konnte sich nie daran satt sehen. Was hatte das alles zu bedeuten?

Doch bevor sie näher darüber nachdenken konnte, zog ein Nebel auf, der ihr in rasend kurzer Zeit die Sicht nahm. Sie sah kaum noch ihre Hände vor sich. Vollkommen orientierungslos stolperte sie hindurch. Seltsamerweise hatte sie aber keine Angst. Sie wartete förmlich darauf. Warum machte sie sich jetzt keine Sorgen?

Sie fühlte sich....... geborgen. Es wurde ihr immer klarer: Das Wohlgefühl aus ihren Träumen überschwemmte sie förmlich. Sie ging immer weiter, obwohl sie nicht sah, wohin. Aber sie wusste einfach, dass sie weiter gehen musste.

Auf einmal sah sie eine Gestalt mitten im Nebel. Das heißt, sie sah nur die Umrisse. Es war eine Frau, die die Arme langsam ausbreitete. Je mehr sie dies tat, umso größer wurde Helga´s Wohlgefühl. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Da kam diese Frau auf sie zu, bis sie kurz vor Helga stand. Diese konnte immer noch keine klaren Konturen erkennen. Aber sie wusste, dass diese Frau wunderschön war.

"Wer bist du?" fragte Helga. "Nenne mich Anja, wenn du einen Namen brauchst," antwortete die Frau. Ihre Stimme klang wundervoll. Helga schluckte. Das war ausgerechnet der Name ihrer ehemals besten Freundin, die jetzt mit ihrem Ehemann das Leben teilte. "Sei nicht wütend, Helga," sprach die Stimme weiter. "Wut ist eine starke Energie, die dich zerstören kann, wenn du sie nicht für dich nutzt." "Für mich nutzen? Wie kann ich denn Wut für mich nutzen?" Helga schüttelte den Kopf. Trotz dem Wohlgefühl konnte sie ihre Ungläubigkeit doch spüren.

"Wenn du wütend bist, wie geht es dir dann, Helga?" Helga stutzte. Woher kannte diese fremde Frau ihren Namen. Und doch antwortete sie wie selbstverständlich auf ihre Frage. "Schrecklich. Ich fühle mich einfach schrecklich. Aber das ist doch normal, oder?" "Für dich ist das normal, Helga. Stelle dir doch einfach mal vor, für einen anderen Menschen, warum auch immer, wäre das nicht normal. Wie ginge es ihm mit der Wut?" Helga wusste zwar nicht, was das sollte, versuchte sich aber doch, das vorzustellen. Es war schwierig. Denn für sie war es das Normalste auf der Welt, dass Wut etwas Schreckliches ist. Wie sollte es auch anders sein?

"Ich spüre, dass es dir sehr schwer fällt. Ich möchte dir eine Hilfestellung geben, wenn du magst." Als Helga nickte, fuhr die Frau fort: "Stelle dir vor, du schaust einen Film, in dem jemand wütend ist. Und du schaust dir diesen Film emotionslos an, da dir die Handlung vollkommen egal ist. Du bist einfach nur stiller Beobachter."

Das ging. Helga konnte sich das vorstellen. Sofort war die Wut einfach nur eine Emotion, die jemand anderes spürte. Sie merkte, dass sie einen Grund benötigte, um Wut empfinden zu können. "Genau so ist es," sprach die Frau weiter. Helga war erstaunt. Offensichtlich konnte diese Anja ihre Gedanken lesen. "Helga, schau dir diesen Film weiter an und schätze das Energie-Level der Wut ein." Helga schaute sich wieder ihren imaginären Film an. Da war jede Menge Energie zu erkennen.

"Gut, Helga! Wut ist eine starke, verdichtete Form." Offensichtlich konnte die Frau auch ihren Traum sehen. Unglaublich! Da veränderte sich ihre Vorstellung. Auf einmal sah sie vor ihrem inneren Auge Anja, ihre ehemals beste Freundin, die auf ihren Mann wütend war. Sie stritten heftig. Da grinste Helga. Sie verspürte Schadenfreude. "Siehst du Helga," sprach die unsichtbare Frau. "Wenn du den Blickwinkel veränderst, kann Wut sogar Freude bringen. Auch wenn es Schadenfreude ist." Auch wenn Helga die Frau nur schemenhaft sehen konnte, meinte sie, ein Grinsen zu erkennen.

"Es hängt also von unserem Blickwinkel und einem Grund, den wir der Sache geben, ab. Nun schau dir nochmal deine eigene, persönliche Wut an. Die Wut auf deinen Mann und deine beste Freundin. Was denkst du dann?" Helga registrierte zwar, dass diese fremde Frau Dinge wusste, die sie gar nicht wissen konnte. Aber es erschreckte sie nicht.

Sie überlegte nicht lange. "Ich will das nicht mehr!" schrie sie fast. "Was genau willst du nicht mehr, Helga?" "Ich will nicht betrogen und belogen werden. Ich will nicht verletzt werden. Nicht hintergangen. Das alles will ich nicht mehr!" Helga war sofort wieder aufgewühlt und fühlte sich schrecklich.

"Sofort sind deine schrecklichen Gefühle zurück, erkennst du das, Helga?" Sie schluckte. Ja, es stimmte. Sobald sie sich darauf konzentrierte, was sie nicht wollte, waren ihren furchtbaren Gefühle sofort wieder da. Alle auf einmal. Sie hätte schreien können.

"Und jetzt dreh es um! Sag mir nicht, was du nicht mehr willst, sondern was du stattdessen willst, Helga!" Helga schüttelte den Kopf. Darüber hatte sie ja noch nie nachgedacht. Nach einer Weile sagte sie fast tonlos: "Ich will ehrlich und aufrichtig behandelt werden. Ich will, dass man meine Gefühle achtet und respektiert." Sie staunte, denn genau in dem Moment, als sie das aussprach, wusste sie, dass es genau so war. Und noch viel besser, ihre Gefühle wurden sofort weicher. Ihre Wut verschwand augenblicklich. Sie lächelte sogar.

"Helga, siehst du, was du dir selbst angetan hast? Durch den Grund, dem du der Angelegenheit gegeben hast, und dem Blickwinkel, den du beibehalten hast, hieltst du an der Wut fest und du hast sie immer und immer wieder gespürt. Sie hat dich gequält, oder?" Helga nickte. "Ja, und wie!" "Du hast dich selbst gequält, Helga. Kannst du das erkennen?"

"Aber ich kann das doch nicht gut heißen, dass mein Mann mich mit meiner besten Freundin betrügt, oder?" "Aha," sagte die Frau mit freundlichem Ton, "dein Mann darf also nur dich lieben. Und deine Freundin auch. Das ist das Beste für sie. Das weißt du. Stimmt das Helga?" Helga schluckte. So hatte sie das noch nie betrachtet. "Nein, ich kann natürlich nicht wissen, dass es das beste für Beide gewesen wäre, wenn alles beim Alten geblieben wäre. Wie denn auch? Ich bin ja nicht Gott...."

"Gut erkannt, Helga, wir spielen es aber allzu gerne. Wie können wir wissen, welche Erfahrung für einen anderen Menschen die für ihn richtige ist? Egal, wie gut wir diesen Menschen kennen, das können wir wirklich nicht wissen. Wie geht es dir denn mit diesem Gedanken, dass die Zwei das hätten nicht tun dürfen?"

Helga fing sofort an zu weinen. Da brauchte sie nicht lange drüber nachdenken. "Schrecklich geht es mir damit. Ich fühle diese Qual und Wut auf die beiden. Ich könnte schreien. Ich schlafe kaum noch, sorge mich, weiß nicht mehr wohin mit mir. Was aus meinem Leben wird. Wer ich bin und was ich überhaupt vom Leben möchte." Es prudelte nur so aus ihr heraus. Und sie wusste genau in dem Moment, in dem sie all das ausgesprochen hatte, dass es sie selbst war, die sich quälte. Weder ihr Ehemann, noch ihre Freundin.

"Gut, Helga. Du empfindest all das, weil du das Urteil in dir hast: Die Zwei dürfen das nicht tun. Sie dürfen sich nicht lieben" Helga zuckte zusammen, aber genau so war es. Sie hat sich bisher nur nicht getraut, das L-Wort überhaupt nur zu denken, geschweige denn auszusprechen. "Helga, wie ginge es dir, wenn du dir die Situation, wie eben die Wut, wieder wie in einem Film anschauen würdest? Vollkommen unbeteiligt."

Helga brauchte eine ganze Zeit. Leise sprach sie: "Ich würde mich für beide freuen können - obwohl ich mir das für mich noch nicht richtig vorstellen kann. Aber ich würde mich tatsächlich freuen können..... wenn es ein Film wäre. Denn ich mag ja beide gerne." Helga stockte und fing an zu weinen. Ja, das stimmte. Das erste mal in all der qualvollen Zeit gestand sie sich ein, dass sie die beiden immer noch liebte. Augenblicklich erinnerte sie sich an die schönen Zeiten mit ihrem Mann und die lustigen Begebenheiten mit ihrer Freundin.

"Ja, Helga, es wäre weniger Qual. Das stimmt! Spielen wir nicht oft Richter und/oder Gott? Und machen uns selbst das Leben zur Hölle." Die Frau wartete, bis Helga sich etwas beruhigt hatte. Nenne mir doch nochmal deine Wünsche. Das, was du statt der Lügen und Verletzungen eigentlich willst."

"Ich will Ehrlichkeit, dass man mich und meine Gefühle achtet und aufrichtig zu mir ist," sagte Helga, jetzt schon mit festerer Stimme. "Bist du ehrlich und aufrichtig zu dir? Achtest du dich und deine Gefühle, Helga?" Das saß! Helga schüttelte den Kopf. "Nein, wenn ich ehrlich zu mir bin.....," Jetzt musste sie selbst über ihre Wortwahl lachen, "dann bin ich eben nicht ehrlich zu mir. Ich habe den Teil, dass ich die beiden liebe, einfach unterdrückt. Ich habe meine Bedürfnisse ignoriert, indem ich ständig damit beschäftigt war, wütend zu sein."

"Genau, Helga, unsere Herausforderungen zeigen uns immer wieder, wo unsere Aufgaben liegen. Das ist alles. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Das sind unsere Werte, Urteile, Blickwinkel, Gründe. Es geht aber nie darum, den anderen Menschen zu sagen, was sie tun, wer sie zu sein oder wie sie zu leben haben. Sondern es geht immer darum, seine Wünsche und Träume zu erkennen und sie für sich umzusetzen."

Helga war verblüfft, wie einfach es war. Daher war es wohl auch so schwer. Aber sie wusste genau in diesem Moment, dass ihr Leben nun nicht mehr so sein würde wie bisher. Das veränderte alles. Und sie fühlte Glück, Frieden und dieses tiefe Wohlbefinden aus ihrem Traum. "Wer bist du, dass du das alles weißt?"

"Nenne mich Anja," sprach die Frau und verschwand.

Helga kehrte in ihr Leben zurück. Sie sprach sich mit ihrem Mann und ihrer Freundin aus. Sie wurden nicht mehr beste Freundinnen, aber wenn man sich begegnete, konnte man ungehindert miteinander sprechen.

Helga verkaufte ihr Haus, zog in eine kleine Wohnung und fing an, sich ihren Träumen und Wünschen zu widmen. Empfand sie Emotionen, die sie belasteten, dann dachte sie an die Worte der Frau, arbeitete solange damit, bis ihr ihre Wünsche und Träume klar wurden und erfüllte sie sich.

Kommentare

  1. Hier waren die vorgegebenen Begriffe: Nebel, Koblenz, Herbstlaub, Engel und Konfetti

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