Das Spinnrad


Thilo nippte lustlos an seinem Bier. Alles war ihm zu laut und hektisch. Marion schien Spaß zu haben. Er war auch nur mitgekommen, um nicht wieder einen Streit zu beginnen. Streitereien waren ihm zuwider. Und es war in den letzten Wochen, wenn nicht sogar Monaten immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen. Hauptsächlich wegen ihm. Marion war der Meinung, er hätte nur noch seine Tanzschule im Kopf. „Schon seit Monaten waren wir gemeinsam nicht mehr unter Menschen“, musste er sich immer wieder anhören. Sie hatte ja Recht. Ihm war das alles nicht so wichtig wie ihr. Wenn er in seiner Tanzschule war, lebte er. Er liebte die Arbeit mit seinen Schülern. Wenn Aufführungen mit ihnen anstanden, blühte er komplett auf und war wie ausgewechselt. Nur, dass Marion recht wenig für seine Liebe zum Ballett nachempfinden konnte.

Als sie sich kennengelernt hatten, war Marion erstaunt darüber, dass ein Mann sein Geld mit Ballett verdiente. Als er dann damals seine Schule eröffnete, wohnten sie noch nicht zusammen. „Ich gebe dir zwei Jahre. Dann musst du dir eine Arbeit suchen“, hatte sie ihm gesagt. Er hatte damals das Gefühl, sie wollte sagen: Eine „richtige“ Arbeit. Und er war verletzt. Aber er war diese Anfeindungen schon gewohnt.

Schon seine Eltern hatten ungläubig geschaut, als er ihnen mitteilte, dass er gerne Ballett tanzen möchte. Thilo hatte mitbekommen, wie sein Vater abends leise zu seiner Mutter sagte: „Mit dem Jungen stimmt was nicht. Andere wollen in den Fußball-Club. Und er? Er will im Röckchen Ballett tanzen. Was werden die Nachbarn sagen?“

Zum Glück hatte er damals an seiner Schule eine Fürsprecherin, die mit seinen Eltern redete. Am Ende stimmten sie zähneknirschend zu. Aber für seinen Vater war es immer wieder ein Thema.

Ganz besonders schlimm wurde es, als Thilo sich entschlossen hatte, nach Berlin auf eine Tanzschule zu gehen, um ein Profi-Tänzer zu werden. Sein Vater hatte fünf Jahre kein Wort mit ihm gewechselt. Das war für Thilo furchtbar. Aber der Wunsch, zu tanzen war stärker.

Die ersten Jahre kam seine Mutter immer alleine zu seinen Aufführungen. Sie reiste zu jeder Premiere an. Egal, in welcher Stadt er ein Engagement hatte. Sein Vater kam erst nach Jahren mit. Aber richtig begeistern konnte er sich nie. „Wann wirst du vernünftig, Junge? Du kannst ja noch nicht einmal richtig davon leben!“ Thilo träumte manchmal nachts von den immer wiederkehrenden Vorwürfen.

Sein Vater hatte in dem Punkt Recht: Nie hatte er genug Geld zum Leben. Es reichte manchmal hinten und vorne nicht. Und wenn seine Mutter ihm nicht manchmal aushelfen würde, wäre er noch schmaler, als er sowieso schon war. Sein Vater durfte natürlich nichts von den Geldgeschenken wissen. „Du weißt ja, wie er ist.“ Thilo hatte anschließend immer tagelang ein schlechtes Gewissen. Aber der Hunger war stets größer.

Daher hatte er auch bei Marion nicht viel gesagt. War ja klar, dass sie auch nicht begeistert sein würde. Trotzdem sind sie nach einigen Monaten zusammengezogen. Es war ihr Vorschlag gewesen, da sie nicht mehr in seine kleine, bescheidene Wohnung kommen wollte. „Bei mir ist es viel gemütlicher. Da brauchen wir doch nicht in deiner kleinen, kalten Wohnung abzuhängen.“

Tja, Geld für eine warme, gemütliche Wohnung musste man halt haben. Und Marion verdiente sehr gut. Sie war in einer Werbefirma Grafikerin und bezahlte die Wohnung auch weiterhin alleine. Das kam Thilo sehr entgegen. Er versicherte ihr immer wieder: „Wenn meine Schule mal richtig angelaufen ist, wird sich das ändern. Du wirst sehen!“ Marion winkte dann meistens ab. Ihr war Geld nicht wichtig. Aber das konnte auch nur jemand von sich behaupten, der nicht ständig Geldsorgen hatte.

Hey, Kumpel, träumst du wieder?“ Sein Freund Majo stand wohl schon länger neben ihm. Thilo hatte tatsächlich wieder seinen Gedanken nachgehangen. „Thilo“, fuhr er weiter fort. „Wenn du dich nicht bald mal zusammenreißt, wirst du diese tolle Frau dort bald verlieren.“ Er zeigte auf Marion, die in einer angeregten Unterhaltung mit irgend einem Typen war, den Thilo nicht kannte.

Ich freue mich, dass du mitgekommen bist. Unsere Kärlicher Kirmes ist doch immer wieder ein Higlight, oder? Du kannst dich nicht immer in deiner Tanzschule verstecken.“ Majo meinte es sicher gut mit ihm. Sein alter Klassenkamerad aus der Grundschule, den sie damals schon Majo nannten, weil er auf jedem Pausenbrot dick Majonnaise hatte, war der einzige Freund, der ihm über die Jahre geblieben war. Warum, wusste Thilo auch nicht so genau. Denn auch Majo ärgerte ihn immer wieder damit, dass er doch mal erwachsen werden müsste und nicht ewig durch die Weltgeschichte tanzen könnte.

Weißt du, Majo, ich bin gerne dort. Wenn ich mit meinen Schülern....“ setzte Thilo an. Aber Majo war schon weiter gezogen und prostete einem anderen Freund zu. „Es interessiert nicht wirklich“, dachte Thilo genervt. „Marion," Thilo war zu ihr herüber gegangen, "ich gehe nach Hause. Du kannst ja noch hier bleiben.“

Marions Augen blitzten. Sie nahm Thilo zur Seite und giftete ihn an: „Wenn du jetzt wieder auf Rückzug gehst, bekommen wir zwei echt Probleme. Ich bin es so satt, Thilo. Seit Monaten waren wir nicht mehr gemeinsam unter Freunden. Alles dreht sich bei dir um deine verdammte Tanzschule. Hier nimmt dich doch niemand mehr richtig ernst. Davon leben kannst du auch noch nicht.“ Sie redete sich in Rage. „Aber.....“ wollte Thilo einwerfen. Doch Marion war so in Fahrt, dass sie einfach weiterredete. „Es nervt, Thilo. Du nervst! Du und deine Ballett-Neurose. Du glaubst, deinen Traum zu leben? In Wirklichkeit verhältst du dich wie ein Kleinkind. Und ich bin es satt, mit einem Kind zusammen zu sein.“

Thilo drehte sich um und ging. Was sollte er auch auf diese Schimpftirade einwenden. Wenn Marion sich mal eingeschossen hatte, blieb ihm eh keine Chance mehr. Zumal er nie so redegewandt war, wie sie und Streitereien hasste. Er ging nach Hause, setzte sich auf die Coach und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Es ging ihm furchtbar. All die Vorwürfe, egal von wem, hatten auch ganz viel Wahrheit. Er verdiente in seinem Alter immer noch nicht so viel Geld, dass er davon leben konnte. Immer wieder war er abhängig von irgendjemandem. So konnte es einfach nicht weitergehen.

Als Marion Stunden später nach Hause kam, fand sie nur einen Brief auf dem Küchentisch. Thilo hatte kurz und knapp geschrieben, dass er so nicht weiterleben wollte. Er konnte auf seinen Traum nicht verzichten, wollte aber auch nicht mehr ihr oder irgendjemand anderem auf der Tasche liegen. Er würde für einige Tage nach Köln zu einem alten Tanzkollegen fahren. Danach wollte er sich nach einem Zimmer umsehen. Marion schien fast erleichtert. Ja, auch sie konnte und wollte so nicht mehr leben.

Thilo saß mit seiner kleinen Reisetasche im Zug und schaute traurig nach draußen. Er beobachtete, wie Bäume, Felder und kleine Ortschaften an ihm vorbeizogen. Seinen ehemaligen Tanzkollegen Gerrit hatte er vor seiner übereilten Abreise telefonisch erreichen können. "Ja, klar kannst du bei mir einige Tage wohnen. Ich selbst bin aber in Wien am Theater. Ein kurzfristiges Engagement. Du kannst den Schlüssel bei meinem Nachbarn abholen." 

So hatte Thilo erst einmal für die nächsten Tage eine kurzfristige Lösung. Zum Glück waren gerade Ferien, so dass er seine Schule sowieso geschlossen hatte. "Der nächste Halt: Köln. Ausstieg in Fahrtrichtung links" ertönte die Ansage in der Bahn.

Gerrit hatte ihm seine Wohnungs-Adresse noch per WhatsApp geschickt. Thilo wollte aber nicht direkt zur Wohnung. Die Sonne schien und er ging aus dem Bahnhof und schaute am Kölner Dom empor. Dieses riesige Gebäude beeindruckte ihn immer wieder. Selten ging er hinein, da er nicht gläubig war.

Heute machte er eine Ausnahme. Der Dom war voller Touristen, wie immer. Thilo reihte sich in die Menschenschar ein. Als er den Dom betrat, konnte er sich nicht gegen ein ergriffenes Gefühl wehren. Die hellen, bunten Fenster beeindruckten ihn sehr. Er ging immer weiter hinein und bewunderte den Mosaikboden im hinteren Teil des Doms. Thilo setzte sich auf eine Steinbank. Dort saß sonst niemand und er konnte alleine und in Ruhe alles genießen. 

Plötzlich setzte sich eine Frau neben ihn und lächelte ihn an. "Hallo, ich bin Helga" sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Thilo war viel zu überrascht, um irgendetwas zu sagen. Das schien Helga nichts zu machen. "Ich sitze auch immer am liebsten hier hinten. Da ist immer am wenigsten los." Helga strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fuhr fort: "Ich komme alle paar Wochen her und besuche meine Eltern. Aber als erstes besuche ich immer den Dom. Hier bekomme ich das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, wie es ist."

Thilo hatte sich von dem Schrecken erholt. "Ist denn etwas nicht in Ordnung, dass du dich hier daran erinnern musst?" Helga lachte. Er mochte ihr Lachen. Es war ansteckend und klang so positiv. "Ja und nein. Immer, wenn ich zu Hause bin, geht es mir gut. Aber wenn ich zu meinen Eltern fahre, weiß ich, dass wieder diese Diskussionen losgehen. Ich bin Autorin. Na ja, eigentlich verdiene ich mein Geld mit Kellnern. Aber ich schreibe leidenschaftlich gerne und habe auch schon den ein oder anderen Wettbewerb gewonnen. Aber so richtig...." Helga verstummte. Thilo musste lächeln und streckte ihr seine Hand entgegen: "Halle Leidensgenossin. Ich bin übrigens Thilo, habe eine Tanzschule, liebe Ballett und mich versteht auch niemand."

Helga lachte so laut, dass sich einige umdrehten und sie vorwurfsvoll ansahen. Es schien ihr egal zu sein. "Kein Wunder, dass ich den Drang hatte, mich ausgerechnet hier neben dich zu setzen. Schön, dich kennen zu lernen, Thilo! Lebst du hier in Köln?" Thilo schüttelte den Kopf. "Nein ich wohne in der Nähe von Koblenz." Helga schaute ihn mit großen Augen an. "Das kann einfach kein Zufall sein, dass wir uns hier begegnen. Dreimal darfst du raten, wo ich lebe." "Jetzt sag aber nicht, in Koblenz!" Thilo sah sie erwartungsvoll an. "Der Kandidat hat einhundert Punkte. Genau dort!" 

Sie verbrachten den gesamten Nachmittag miteinander und hatten sich viel zu erzählen. Thilo fühlte sich wohl mit Helga. Endlich einmal jemand, der ihn genau verstehen konnte. Der ihn nicht verurteilte für das, was er tat und liebte. Sie fand es vollkommen nachvollziehbar, dass er sich mit einer Tanzschule selbständig gemacht hatte. "Natürlich musst du dran bleiben, Thilo! Das ist dein Leben, deine Leidenschaft! Auch wenn der Rest der Welt anderer Meinung zu sein scheint. Lass dich bloß nicht beirren!"

Das tat Thilo so gut. Er bekam sonst selten Bestätigung. Eigentlich nur von seinen Schülern. Und die waren teilweise so klein und jung, dass er immer dachte, das zähle nicht. Und hier war eine erwachsene Frau, die ihm bestätigte, dass es gut war, was er tat. 

"Auch wenn es jetzt noch nicht zum leben reicht, Thilo. Das wird es irgendwann. Vertraue darauf. Weißt du, ich ertrage das Kellnern auch nur, weil ich das Schreiben so sehr liebe." "Kannst du denn vom Kellnern leben?" Thilo schaute sie fragend an. "Na ja, schon ganz gut. Aber die Mieten sind teuer. Da vermiete ich meine Zweizimmerwohnung immer unter. Ich bin zwar kein großer Fan von WG´s, aber nur so geht es. Momentan zieht leider meine Mitbewohnerin aus. Sie hat sich verliebt und meinte, mir das erst heute Morgen vor meiner Abreise erzählen zu müssen. Sie zieht die Tage schon zu ihm. Das wird hart, bis ich jemand anderen gefunden habe."

Thilo strahlte sie an: "Helga, das ist jetzt echt nicht wahr, oder? Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer. Also, wenn du nichts gegen eine gemischte WG hast, bin ich dabei." "Nee, oder? Das ist ja.... Aber du hast die Wohnung ja noch gar nicht gesehen." "Brauche ich nicht. Ich nehme das Zimmer!" Helga lachte. "Wir Künstler sind nicht wählerisch, was?"

Das stimmte. Thilo war momentan vollkommen egal, wo er wohnte. Hauptsache, es war bezahlbar und er kam zu seiner Tanzschule. Als die beiden alles abgesprochen hatten und Thilo die Zusage hatte, dass er in einer Woche bei ihr einziehen konnte, trennten sie sich. Helga fuhr zu ihren Eltern, um sich die nächsten Vorhaltungen anzuhören. Und Thilo richtete sich bequem in Gerrits Wohnung ein, um dort einige Tage zu entspannen.

Der Blick in die Zukunft war jetzt nicht mehr ganz so trüb. Seine Angst jedoch blieb. Was, wenn er die Miete für das Zimmer auch nicht mehr stemmen konnte. Was, wenn sich durch Krankheit oder was auch immer, seine Einnahmen aus der Schule verringern würden. Er kannte diese Angst. Und sie war ja auch berechtigt. Denn wie oft war er auf Hilfe von anderen angewiesen gewesen.

Vielleicht sollte er sich auch einen Job nebenbei suchen, so wie Helga. Aber er hatte das schon in der Vergangenheit versucht. Er konnte das mit seinen unterschiedlichen Arbeitszeiten in seiner Schule nicht vereinbaren. So viel Flexibilität konnte kein Arbeitgeber geben. Und wenn er für Aufführungen probte, war er jeden Tag mindestens acht, eher zehn bis zwölf Stunden im Probenraum.

Seine Sorgen machten sich in seinen Gedanken immer mehr breit. Vielleicht hatte sein Vater doch Recht. Mit ihm stimmte etwas nicht. Andere bekamen doch ihr Leben auch irgendwie auf die Reihe. Helga zum Beispiel. Sie machte ihr Ding, schaffte es trotzdem irgendwie unabhängig zu bleiben und hatte auch noch so eine positive Ausstrahlung.

Als er es mal wieder nicht aushielt vor lauter Sorgen, ging er am Kölner Rheinufer spazieren. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag und viele Menschen waren gut gelaunt unterwegs. Das zog Thilo noch mehr herunter. Diese Menschen hatten sicher nicht all diese Sorgen, die bei ihm schon zum Alltag dazu gehörten.

Er zog seine Schultern immer höher, so als wolle er sich förmlich verstecken. Er schämte sich so sehr. Heute erst hatte er mit seiner Mutter telefoniert. Er konnte ihre Enttäuschung hören, als er ihr von seiner Trennung berichtete. "Aber Junge, Marion hat dir doch so gut getan." Seine Mutter schien damals erleichtert, als er das erste mal Marion mit zu seinen Eltern brachte. "Die ist gut für dich, Thilo. Die weiß, was sie will. Das fehlt dir!" Eigentlich hätte sie ihm auch direkt sagen können: "Die ist wenigstens lebensfähig und kann dir helfen. Alleine schaffst du es ja nicht." Er war nicht gerecht seiner Mutter gegenüber. Er wusste, sie meinte es nur gut mit ihm. Und sie hatte nie ein böses Wort gegen ihn. Ihre spürbare Enttäuschung über die Trennung war daher umso weniger auszuhalten.

Thilo musste sich setzen. Das alles zehrte so sehr an ihm, dass er förmlich spürte, wie die Kraft ihn verließ. Vor sich sah er eine Bank, auf der ein altes Mütterchen saß. Sie sah sonderbar aus. Ihre Kleidung schien alt und auf dem Schoß hatte sie ein Spinnrad mit ihren Armen umschlungen.

"Ist hier noch frei?" fragte Thilo höflich. "Komm, mein Junge", das Mütterchen klopfte auf die Bank. "Ich habe schon auf dich gewartet." Sie war sicherlich verwirrt. Thilo setzte sich und schaute trübsinnig auf den Rhein.

"Weißt du, mit einem Spinnrad wird aus losen Fasern ein Faden gesponnen", sprach die Frau und sah ihn von der Seite an. Als sie nicht weiter sprach, so als warte sie auf eine Antwort, sagte Thilo: "Ja, ich weiß." Was sollte er auch sonst auf so eine Aussage erwidern. "Und aus dem Faden wird dann etwas hergestellt" fuhr die Alte fort. "Daher gibt es verschiedene Herstellungsverfahren. Es liegt in den Händen der Spinnerin, soviel Fasern freizugeben, um die richtige Dicke des Fadens hinzubekommen. Es ist wichtig, wie schnell man tritt, auszieht und in den Spinnflügel einlaufen lässt."

Thilo wusste nicht, was das alles soll. Aber er dachte sich, dass das Mütterchen sonst vielleicht niemanden zum Reden hatte. Also heuchelte er Interesse und hörte ihr zu. "Die Grundlage alle weiteren Arbeiten liegt also in der Hand der Spinnerin. Natürlich ist auch die Faser wichtig. Unterschiedliche Fasern ergeben unterschiedliche Garne. Grundsätzlich gilt: Je feiner das Garn, desto feiner die Fasern, die verwendet werden und desto aufwändiger der Spinnprozess."

Die alte Frau schaute Thilo vielsagend an. Ihm fiel nichts ein, was er darauf erwidern sollte. Er wusste ja noch nicht einmal, warum ihm die Alte das alles erzählte, die währenddessen liebevoll ihr Spinnrad streichelte. "Vergesse nie das Spinnrad!" sprach sie nun verschwörerisch weiter. "Es ist immer wichtig, was und wie du es machst und mit wem. Verstehst du, Junge?" Jetzt nickte Thilo. Denn er dachte an seine Ballettschule. Dort war es genau so. Es hing an ihm, an seinem Einfühlungsvermögen, aber auch an seinem Können und seiner Art zu Lehren, wie es vom Schüler umgesetzt wurde. Und dann war sein Schüler ein wichtiger Faktor zum Erfolg. War er talentiert und willens an sich zu arbeiten? Wenn beide Faktoren zusammentrafen, konnte ein sehr gutes Ergebnis daraus werden.

Thilo bekam eine Gänsehaut. Jetzt wusste er, was er konnte, wollte und wie wichtig das war, was er tat. Und am allermeisten wurde ihm klar, wie wichtig es war, dass er ein Mann war und seine Erfahrungen gemacht hatte. Wie oft hatte er in der Vergangenheit Jungs, die ab der Pubertät mit Ballett aufhören wollten, zugestimmt. Er wollte ihnen die Schmach und den Ärger ersparen, worunter er so viele Jahre gelitten hatte. Aber seine Aufgabe war es, das sah er jetzt ganz klar, genau ihnen zu vermitteln, dass es in Ordnung war, seine Leidenschaft zu leben - egal, was die anderen sagten.

Er wusste es jetzt! Seine Aufgabe war genau an dem Ort, an dem er war. Und seine Geschichte war für andere wichtig. Und es lag in seinen Händen, was er daraus machte. Er strahlte die Alte an. "Danke, Mütterchen! Du hast mir gerade sehr geholfen." "Das freut mich, mein Junge. Ich möchte dir gerne mein Spinnrad schenken. Meine Hände wollen nicht mehr. Ich möchte aber, dass mein Spinnrad in gute Hände gelangt. Es wird dich immer an deine Wichtigkeit erinnern. Und das du gut bist, genau so wie du bist." Thilo wollte abwehren. Aber die Frau ließ sich nicht erweichen. Es schien ihr wichtig. "Du wirst meinem Spinnrad wieder Leben einhauchen, Junge. Das Leben ist ein Tanz." Sie stand auf, überreichte ihm ihr Spinnrad und ging fort. Plötzlich drehte sie sich noch einmal um. "Heidi, mein Name ist Heidi. Pass auf dich auf, Thilo!" Dann verschwand sie in der Menschenmenge.

Thilo nahm das Spinnrad, streichelte es liebevoll, so wie vorher Heidi und ging glückselig zurück in Gerrits Wohnung. Am nächsten Tag fuhr er nach Hause. Er wusste genau, alles würde gut werden. Er hatte jetzt ein Zimmer bei Helga. In Zukunft wollte er wieder mehr Leidenschaft und vor allem Freude in seinen Unterricht einfließen lassen.Das war ihm in den vergangenen Jahren abhanden gekommen. Thilo sprühte vor Ideen. Und er wollte Helga fragen, ob sie nicht Gedichte schreiben wollte, die er mit Musik und Tanz gemeinsam mit seinen Schülern zum Leben erwecken würde.

Mitten in seiner Euphorie stutzte er. Woher hatte das Mütterchen seinen Namen gewusst? Er hatte in mit keinem Wort erwähnt!

Kommentare

  1. Hier waren die vorgegebenen Begriffe: Rückzug, Neurose, Kölner Dom, Kärlicher Kirmes und Spinnrad.

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  2. Mario (Majo) 😁1. Oktober 2018 um 19:41

    Super geschrieben. Echt genial. Danke, dass ich dabei und mittendrin sein durfte����

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